Es gibt kleine Jungs, die haben ein Spezialwissen zu Dinosauriern, über dessen Breite wir uns nur wundern können. Ich kenne S., eine 15-Jährige, die hat ein Spezialwissen zu allem, was man mit der Haut so anstellen kann: scarifizieren (Narben anbringen), piercen, tätowieren. Im Gegensatz zu Dinosauriern sind diese Praktiken nicht ausgestorben mit den letzten „Wilden“ in unserer globalisierten Welt, sondern total in Mode. Anstatt mich nun weiter darüber zu wundern und sogar ein bisschen zu ekeln, liess ich mich von ihr durch die Ausstellung „Make-up“ im Museum der Kulturen in Basel führen. Aha, Schmucknarben machen sich gut auf schwarzer Haut, sie können Zeichen sein für verschiedene Zugehörigkeiten, sagt sie mir bei afrikanischen Skulpturen. Die Technik der Ohrringe, die die Ohrläppli ausweiten, „Tunnel“ oder „plug-ins“, erklärt sie mir ausführlich. Gepiercte Bauchnäbel kämen für sie nun gar nicht in Frage – das sei so was von normal und typisch für Mädchen (mit mindestens drei ä gesprochen). Auf den Hüftknochen hingegen würde sie Piercings anbringen. Traditionelle Tätowierinstrumente aus Samoa oder Japan würde sie als „neue Erfahrung“ durchaus ausprobieren. Sie zeigt mir einiges zum Thema Zähne: japanische Ehefrauen drückten ihre Treue durch geschwärzte Zähne aus. Im Gegensatz dazu sind Bleichmittel für Zähne bei uns fast schon üblich. Weisse Zähne seien heute wichtig – man müsse sich einfach gut rüberbringen. 1976, als ihre Eltern jung waren, sei das anders gewesen, die sollten nicht immer ihre Zeit mit der jetzigen vergleichen!
Ritzen und facebook
Unterschiedliche Schönheitsideale zeigen sich zum Beispiel auch bei der Hautfarbe – oder sind es dieselben, westlich beeinflusst? Bleichmittel für die Haut gibt es in Afrika, Bräunungscremes bei uns. Früher war gebräunte Haut aber gar nicht „in“, da eine weisse Hautfarbe bedeutete, dass man es nicht nötig hatte, minderwertige Arbeit in der Landwirtschaft zu leisten. Ihr gefalle weisse Haut – zu schwarzen Haaren und roten Lippen. Und da kommen wir zu ihrem Stil – der Amy- Winehouse- Lidstrich fällt auf. Ansonsten nenne sich ihr Kleiderstil „Hipster“. „Emo“ finde sie aber auch ganz toll und sie zeigt mir Fotos auf dem Smartphone von kunstvoll gefärbten Frisuren, die sie sich dann bald einmal machen werde. Und da sind wir mitten drin in ihrem Leben, wo der ewige Kampf der Pubertierenden tobt, den sie selber gut beschreiben kann. Dazu gehört auch, sich zu ritzen – Wut und Trauer könnten dadurch abgelenkt werden. Der Schmerz tue ihr gut. Dass einige Mädchen ihre neuen Narben auf facebook zeigten, um Aufmerksamkeit zu erhalten, findet S. abstossend. Ansonsten ist sie auf erfrischende Art tolerant: es sei genauso „unmenschlich und dumm“, gegen ein muslimisches Kopftuch zu sein wie gegen Tätowierte oder Gepiercte.
Wir merken überrascht, dass wir nun schon eineinhalb Stunden in der Ausstellung sind. Dass wir so lange reden konnten, liegt auch an einer kleinen Sitzecke, die geschützt in der Mitte der Ausstellung steht. Leider ist das Fotografieren in „Make-up“ verboten. Nicht so im Gewerbemuseum Winterthur, das ebenfalls die Haut zum Thema macht. In der Teilausstellung „Tattoo“ finden sich hunderterlei Aspekte zu Tätowierungen durch die Zeiten und die Weltgegenden. Die folgenden Bilder stammen alle von dort.

„Ta Moko“ – das Gesichtstattoo der Maori in Neuseeland wurde lange unterdrückt. Im Zuge des wiedererwachenden Selbstbewusstseins der Maori wird es heute wieder häufiger ausgeführt – als Zeichen von Familienzugehörigkeit, für bestimmte Vorfahren und spezielle Fähigkeiten.

Die Frauen der Chin in Burma werden beim Übergang von Kindheit und Erwachsensein tätowiert und zwar nur von weiblichen Tattoo-Spezialistinnen. Die Muster wechseln von Clan zu Clan, die genauen Bedeutungen sind noch unerforscht.

„Donata, 2005“ – der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye (*1965) liess anästhesierte Schweine von professionellen Tätowierern „behandeln“. Die Menschenähnlichkeit der Schweine wird brutal deutlich – was das für Implikationen für unseren Umgang mit ihnen hat, darüber lässt sich viel diskutieren.
Ekel? Faszination!
Ich ekle mich inzwischen nicht mehr, könnte mich immer noch nicht zu Piercings oder Tattoos überwinden, bin nun aber ziemlich fasziniert von Tätowierungen. Und finde, dass beide Ausstellungen richtig unter die Haut gehen – eine Chance für Innensichten, die wir „Alten“ mit den Jugendlichen an anderen Orten nicht so leicht gewinnen könnten.
Bewertung
die Ausstellungen „Make up“ in Basel und „Tattoo“ in Winterthur *****
Ein Gedanke zu “Scarifizieren, Tunnel, Emo – mit Jugendlichen ins Museum”